Neue Erkenntnisse im Fall Amri | Rede im Abgeordnetenhaus

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst und vor dem Hintergrund der heutigen Berichterstattung und der heutigen Debatte möchte ich meinem Redebeitrag vorausschicken, dass mein Vertrauen in die Polizei als Behörde weiter besteht. Das schließt Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter nicht aus. Es ist richtig, Strukturen sind zu hinterfragen, die Ausstattung muss verbessert werden, und bei notwendigen Konsequenzen dürfen wir nicht zögern, aber wir sind im Grundsatz gut beraten, zu den Frauen und Männern zu stehen, die ihren Kopf für unsere Sicherheit hinhalten.

Ich habe immer gesagt, dass ich als Vertreter des Landes Berlin alles dafür tun werde, um die Hintergründe des terroristischen Anschlags vom Breitscheidplatz zu untersuchen. Das sind wir zuallererst den Opfern dieses Attentats und auch ihren Familien schuldig. Das sind wir auch den Überlebenden schuldig. Je mehr wir wissen, desto klarer wird, die Sicherheitsbehörden arbeiten im Grundsatz gut, haben eine Reihe von Anschlägen verhindert, aber es sind eben auch Fehler gemacht worden. Und das Beste, was man aus Fehlern machen kann, ist, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wiederholen. Wir können kein Interesse daran haben, dass irgendetwas verschleiert wird. Schon im Hinblick auf unsere zukünftige Sicherheitslage können wir kein Interesse an Verschleierung haben.

Wir haben dafür zu sorgen, dass die Sicherheitsarchitektur in Berlin so stark ist, dass sie dem Terror standhält, dass sie so stark ist, Terror im Keim zu ersticken, um das Leben der Menschen in Berlin zu schützen. Wenn es Schwachstellen gibt, müssen wir sie benennen, um sie zu beheben. Um im Bild zu bleiben: Wir müssen die Statik der Sicherheitsarchitektur in Berlin permanent überprüfen. Da nutzt es auch nichts, die Augen zu verschließen, wenn man Schwachstellen entdeckt, so nach dem Motto: Es wird schon irgendwie halten. Nein, wir müssen dafür sorgen, dass unser Haus bis in den kleinsten Winkel stabil bleibt. Der Senat von Berlin hat am 28. März dieses Jahres die Entscheidung getroffen, einen Sonderbeauftragten einzusetzen, der die Hintergründe des Anschlags klären soll. Das haben wir gemacht, um schnell und gründlich einen Blick von außen zu bekommen. Seit gut vier Wochen ist Bruno Jost jetzt in dieser Angelegenheit tätig. Öffentlich geäußerte Kritik, Bruno Jost sei nicht unabhängig oder nur ein Anhängsel der Behörde, deren Handeln er untersuchen soll, möchte ich an der Stelle ausdrücklich zurückweisen. Wer so etwas behauptet, kennt Bruno Jost nicht. Denn die Informationen, die jetzt Gegenstand dieser Aktuellen Stunde sind, sind erste Ergebnisse seiner Arbeit. Der Sonderbeauftragte hatte bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin Akteneinsicht beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat daraufhin Ermittlungsakten beim LKA Berlin angefordert. Seit dem späten Dienstagabend gibt es Informationen, dass das LKA Berlin über einen Vermerk mit Ergebnissen der Telekommunikationsüberwachung mit dem Datum vom 1. November 2016 verfügt. In diesem Vermerk, der nach unserem derzeitigen Erkenntnisstand damals nicht an die Generalstaatsanwaltschaft gegangen ist, wird Anis Amri auf der Grundlage der ausgewerteten TKÜ vorgeworfen, gewerbsmäßigen, bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln zu betreiben. Nach Ansicht von Experten hätten diese Erkenntnisse ausgereicht, um bei der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl zu erwirken.

Es gibt nun einen weiteren Vermerk aus dem LKA Berlin mit dem gleichen Aktenzeichen und mit dem gleichen Datum, der aber erst am 19. Januar 2017 gefertigt wurde und auf den 1. November 2016 zurückdatiert ist, in dem nicht mehr von gewerbsmäßigen, bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln die Rede ist, sondern nur noch von vermutlichem Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln. Um es klar zu sagen, auf der Grundlage des Straftatbestandes „gewerbsmäßiger, bandenmäßiger Handel mit Betäubungsmitteln“ wäre eine Verhaftung und Inhaftierung von Anis Amri möglich gewesen. Im Raum stehen die Vorwürfe „Strafvereitelung zugunsten von Anis Amri“ und „Falschbeurteilung zur Verdeckung von Dienstvergehen“. Ich habe aus diesen Gründen Strafanzeige gestellt und disziplinarrechtliche Maßnahmen im LKA Berlin veranlasst. Sollte innerhalb des LKA irgendetwas verschleiert worden sein, werden wir das aufklären und die notwendigen Konsequenzen, auch personelle Konsequenzen, ziehen. Wir reden hier nicht über eine Bagatelle, sondern über einen Terroranschlag mit zwölf Toten und über 60 Verletzten, deren Trauma wir alle nur erahnen können. Zunächst zu den notwendigen Entscheidungen, die wir seit Januar dieses Jahres getroffen haben – erstens: Ich stelle fest, es war die richtige Entscheidung, den Sonderbeauftragten zu berufen. Er soll Fragen stellen, das ist sein Auftrag. Er soll die richtigen Fragen stellen, das war sein Auftrag. Wir stellen fest, er hat sehr präzise und kurzfristig die richtigen Fragen gestellt. Bei der Entscheidung, einen Untersuchungsausschuss mit dieser Aufgabe zu beauftragen, wären wir heute wahrscheinlich noch in der Phase der Konstituierung des Ausschusses. Wir werden also weiterhin mit der Arbeit des Sonderbeauftragten fortfahren und schnell zu präzisen Ergebnissen kommen, die uns helfen, uns für die zukünftigen Gefahren zu wappnen und Strukturen gegebenenfalls schnell zu verbessern. Und wir werden weiterhin offen mit den Ergebnissen seiner Arbeit umgehen, so wie wir das bisher getan haben. Die Vorwürfe der Verschleierung weise ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich zurück. Glauben Sie nicht den politischen Lautsprechern und selbsternannten Fernsehexperten! Die Aufklärung, die wir führen, folgt rechtsstaatlichen Prinzipien. Gewaltentrennung gehört dazu, Datenschutz gehört dazu. Schauen Sie bitte auf die Ergebnisse der Arbeit des Sonderbeauftragten! Die Ergebnisse überzeugen an dieser Stelle. Ich weiß noch nicht, was in den nächsten Wochen und Monaten folgt – das werden wir sehen. Ich bin da auf Verschiedenes vorbereitet, die notwendigen Konsequenzen sind zu ziehen. Wie dann die weitere Aufklärung im parlamentarischen Raum erfolgt, das ist Sache des Parlaments. Der Senat steht den verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, offen gegenüber. Zweitens: Es war richtig, dass der Staatssekretär für Inneres im Januar 2017 ein Löschungsmoratorium ausgesprochen hat für alle Daten im Zusammenhang mit dem Attentat vom 19. Dezember 2016. So stehen uns die Daten jetzt zur Verfügung. Drittens: Es war richtig, im Januar 2017 das Präventionsund Sicherheitspaket zu beschließen. Es war richtig, darin einen Schwerpunkt auf die verbesserte Personalausstattung der Polizei zu legen. Es war richtig, die Entscheidung zu treffen, dass die Ausstattung der Polizei deutlich verbessert werden muss. Ich stelle noch einmal fest: Zu Beginn der Legislaturperiode waren von 73 Schießbahnen, die die Polizei zum Training haben müsste, nur noch elf verfügbar. Die Personalsituation muss sich kontinuierlich verbessern.

Die Ausbildung von neuen Polizistinnen und Polizisten dauert aber drei Jahre. Das heißt, es ist eine Aufgabe, die sicherlich nicht kurzfristig zu bewältigen ist, sondern mindestens diese und wahrscheinlich noch die nächste Legislaturperiode in Anspruch nimmt. Für die Aufgaben, die beim politischen Staatsschutz zur Abwehr terroristischer Gefahren wahrgenommen werden, reichen drei Jahre Ausbildung nicht. Die Personalsituation bei der Polizei zu verbessern, ist also eine Aufgabe, die uns auf längere Zeit beschäftigen wird. – Die Leistung besteht nicht darin, immer wieder den Ausspruch zu wiederholen: Wir brauchen mehr Polizei. – Die Leistung wird darin bestehen, diesen Ausspruch beharrlich zu realisieren. Das sage ich auch in Hinblick auf die bevorstehenden Haushaltsberatungen dieses Hauses. Viertens: Es ist richtig, das Handeln von Polizei und Staatsanwaltschaft zu verbessern. Wir haben im Januar, Februar dieses Jahres entschieden – übrigens bundesweit in der Diskussion entschieden –, dass wir bei terroristischen Taten einen Gesamtblick auf die Gefährder einführen müssen, weil islamistische Attentäter in der Regel nicht nur Attentate begehen oder Gefährder sind, sondern auch andere Straftaten begehen. Man kann schlicht sagen, die Al-Capone-Methode: Man bekommt sie nicht wegen Mord, aber man bekommt sie beispielsweise wegen Steuerhinterziehung oder Drogenvergehen. Diese Entscheidung ist richtig. Ich bewege mich jetzt im Bereich der Spekulation bei der Frage: Warum ist denn damals im Oktober, November vergangenen Jahres das Ergebnis der Telekommunikationsüberwachung nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden? – Na ja, möglicherweise weil im Staatsschutz gedacht wurde, wir jagen Gefährder, wir jagen islamistische Attentäter, aber wir jagen keine Drogendealer. Wir sind nicht zuständig. – Das kann für die Zukunft nicht mehr gelten. Das muss anders werden. Das ist inzwischen auch schon anders geworden. Beispielsweise haben wir seit Januar dieses Jahres in Berlin vier Gefährder abgeschoben, eben weil wir uns intensiv mit ihnen beschäftigt haben und weil wir intensiv daran gearbeitet haben, sie außer Landes zu bringen. Es sind übrigens auch Schlussfolgerungen zu ziehen für die Fehlerkultur innerhalb der Polizeibehörde. Wenn unter enormem Druck gearbeitet wird, passieren Fehler. Wenn solche Fehler Menschenleben gekostet haben, ist es schwer, hier zu sagen: Ja, es passieren auch Fehler, wenn man unter Druck arbeitet. – Wenn das aber passiert ist, muss man damit offen umgehen und darf die Sache nicht verschlimmern, indem man diese Pannen dann verschleiert.

Fünftens: Gesetzesänderungen sind richtig und notwendig. Die Diskussion über Fehler der Polizei darf nicht die eigentliche Frage in den Hintergrund drängen, wer unsere Sicherheit gefährdet. Schuld an der Situation sind nicht die Polizisten, schuld sind die Terroristen. Wir müssen also auch in dieser Diskussion über die Empörung hinaus Augenmaß bewahren, denn wir müssen auch unsere Gesetze daraufhin überprüfen, dass sie nicht dazu führen dürfen, erkannte Gefährder statt unserer Sicherheit zu schützen. Unsere Freiheit ist ohne Sicherheit nicht denkbar. Sechstens, das ist für mich einer der wichtigsten Punkte: Es war richtig, das Sicherheitspaket nicht einfach „Sicherheitspaket“ zu nennen, sondern „Präventions- und Sicherheitspaket“, und zu beschließen, dass wir zukünftig ein wesentlich stärkeres Augenmerk auf die Prävention und die Deradikalisierung legen. – Ich verstehe den Drang, zu schnellen Ergebnissen kommen zu wollen, und ich verstehe die Ungeduld. Ich nehme mehrfach die Kritik wahr: Da ist noch nichts passiert! Die haben im Januar zusammengesessen, jetzt haben wir Mai, und da ist noch nichts passiert. – Strukturen aufzubauen und Geld zur Verfügung zu stellen, ist das eine. Prävention macht aber nur Sinn, wenn sie jahrelang, wenn sie beharrlich weitergeführt wird, wenn sie an den Strukturen arbeitet.

Das ist nicht spektakulär, ich weiß. Für unsere Sicherheit ist das aber mittel- und langfristig viel wichtiger als eine zusätzliche Videokamera. Glauben Sie nicht den Vereinfachern, die Ihnen absolute Sicherheit versprechen! Es ist wahr, unsere offene und freie Gesellschaft ist verletzlich. Die Einschränkung unserer offenen und freien Gesellschaft ist aber keine akzeptable Antwort auf die bestehenden Gefahren. Berlin ist und bleibt offen, bunt, tolerant und vielfältig. Berlin muss aber auch wehrhaft bleiben und an den notwendigen Stellen die innere Sicherheit verbessern. Wir sind es den Opfern des Anschlags schuldig, dass alles aufgeklärt wird und dass wir für die Zukunft die richtigen und notwendigen Konsequenzen ziehen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!